Benutzer-Werkzeuge

Webseiten-Werkzeuge


No renderer 'pdf' found for mode 'pdf'
heft:das_verlorene_system_-_terra

  Titel:
Autor: Hans Kneifel
Reihe:Terra Band 348
Originaltitel
Titelbild: Karl Stephan
Verlag:Moewig, Rastatt 1964

Wir erteilen heute wieder Herbert Bodenschatz das Wort mit dem dritten Teil seiner Abhandlung über die UTOPIE. (Siehe auch TERRA-Bände 346 und 347 an dieser Stelle!) Der Verfasser hatte zuletzt die Antike behandelt und fährt nun folgendermaßen fort:
Im Anschluß an das Altertum weist das Reich der Utopie eine große Lücke auf, nämlich das Mittelalter. Bis auf geringe Ausnahmen religiöser Utopie, die jedoch mehr eschatologisch gefärbt war, ließ das mittelalterliche Weltbild in seiner harmonischen Geschlossenheit und gottgefügten Ordnung keine Spekulationen über mögliche Idealstrukturen oder Zukunftsentwicklungen rein irdischer Sicht zu. Das Leben auf dieser Welt war lediglich eine Übergangsstufe zur Vervollkommnung im Jenseits und lag deshalb nicht im Bereich utopischer Verbesserungswünsche. Die metaphysische Geschichtsphilosophie eines Joachim von Fiore, seine Lehre von den drei Reichen zwischen Schöpfung und Weltende, ist mehr das chiliastisch beeinflußte Werk eines mystischen Denkers. Auf die Unterschiede zwischen Eschatologie, Chiliasmus und Utopie werde ich am Ende des historischen Abrisses näher eingehen.
Die klassische Schrift aller Utopien bringt uns die Renaissance. Es ist die bereits erwähnte Utopia des Thomas Morus (1478 – 1535). Morus, Jurist und Lordkanzler von England, war vom humanistischen Geist geprägt und stand in Verbindung mit Erasmus von Rotterdam. Wegen seiner Weigerung, auf die Suprematsakte Heinrichs VIII. den Eid abzulegen, wurde er hingerichtet. Der volle Titel des Buches lautet „De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia“. Dieses Utopia wird im Lauf der Erzählung verschiedentlich auch mit dem latinisierten Namen „Nusquama“ belegt.
Das Buch ist als Erzählung eines fiktiven Reisenden abgefaßt, der dem Verfasser und seinen Freunden von der Insel Utopia berichtet.
Wie ist nun dieser Staat der Utopier beschaffen? Es ist für ihn vor allem bezeichnend, daß in ihm das Privateigentum aufgehoben ist. Alles ist allen gemeinsam, die Mahlzeiten werden gemeinschaftlich eingenommen, es herrscht religiöse Toleranz. Das Leben der Bürger ist vom Staat bis ins einzelne geregelt. Alle Städte sind nach dem gleichen Muster gebaut, jedermanns Kleidung ist vom gleichen Stoff und Schnitt. Die Berufstätigkeit ist genau reguliert. Es besteht außer für den Priesterstand Arbeitspflicht. Diese Arbeitspflicht, die Berufslenkung, die staatliche Bedarfslenkung und die staatliche Einschränkung der Luxusgüterherstellung führen dazu, daß die tägliche Arbeitszeit auf sechs Stunden begrenzt ist. Trotz aller Vorzüge weist aber dieses Staatswesen auch sehr starke Schattenseiten auf: So stehen alle Bürger unter härtestem Zwang. Zuwiderhandlungen gegen die Gesetze werden mit Zwangsarbeit und der Todesstrafe geahndet. Wer sich beispielsweise außerhalb seines Wohnbezirks ohne Erlaubnis aufhält, wird zurückgebracht und gezüchtigt. Die niedrigen Arbeiten werden von Sklaven und Kriegsgefangenen geleistet. Trotz aller prinzipiellen Gütergemeinschaft ist Utopia doch wieder als Klassenstaat eingerichtet. Auch in der Außenpolitik und im Krieg herrschen brutale Grundsätze. Kriege führen die Utopier, wie es heißt, nur „um der Menschlichkeit willen“, eine Phrase, deren Fadenscheinigkeit gar nicht näher untersucht zu werden braucht.
Es ist ziemlich schwierig, eine einheitliche Deutung dieses Werkes zu geben. Zweifelsohne ist es falsch, die kommunistischen Grundzüge überzubewerten und dahingehend zu interpretieren, daß man in der Utopia die Vorwegnahme eines sozialistischen Wohlfahrtsstaates sieht. Dem stehen die nicht minder eindeutigen Bezüge auf den rein machtpolitischen Herrschaftsstaat gegenüber. Sogar der Verfasser selbst neigt nicht eindeutig zu einer bestimmten Tendenz, da er am Schluß des Buches in offener Form Kritik und Zweifel an dem eben geschilderten Staatswesen laut werden läßt. Am wahrscheinlichsten ist die Lösung, daß der Humanist Morus eine – wenn auch unvollkommene – Synthese zwischen der Darstellung eines noch nicht bestehenden Idealstaates und der verschlüsselten Kritik an seiner eigenen Umwelt geben wollte. Utopia trägt manche Züge des frühimperialistischen England. Die fingierte Hauptstadt Amaurotum am Fluß Anydros heißt in der Übersetzung so viel wie Nebelstadt, also eine Anspielung auf London. Auch die Insellage und der ständische Aufbau spielen eine gewisse Rolle. Die zwiespältige Haltung des Verfassers kommt auch in seinem Schlußwort zum Ausdruck: „Inzwischen kann ich zwar nicht allem zustimmen …, jedoch gestehe ich gerne, daß es im Staate der Utopier sehr vieles gibt, was ich unseren Staaten eher wünschen möchte als erhoffen kann. Weitaus radikalere christlich-kommunistische Tendenzen zeichnet der Dominikanermönch Thommaso Campanella (1568 – 1639) in seinem SONNENSTAAT. Campanella, der sich wegen Ketzerei 27 Jahre in Haft befand und mehrmals schwer gefoltert wurde, zeigt einen Stadtstaat, der von Priesterphilosophen mit einem idealen Papst an der Spitze beherrscht wird. Bemerkenswert an dieser Schrift, die als Gespräch zwischen einem Großmeister der Hospitaliter und einem genuesischen Seefahrer dargestellt wird, sind die genaue Lokalisierung der Sonnenstadt auf der Insel Taboprans (altgriechischer Name für Ceylon), die Hervorhebung der mechanischen Künste und Naturwissenschaften und eine regelrechte Apologie der sonst als Pseudo-Wissenschaft verfemten Astrologie. In Stoff und Aufbau wirkt jedoch Campanellas Buch im Vergleich zu Morus verhältnismäßig gekünstelt und primitiv, der dogmatische Eifer überwuchert die künstlerische Gestaltung.
In der nächsten Fortsetzung wird unter anderem der erste von einem Deutschen verfaßte utopische Roman behandelt.
 
Freundliche Grüße bis zur nächsten Woche von der
SF-Redaktion des Moewig-Verlages
Günther M. Schelwokat

heft/das_verlorene_system_-_terra.txt · Zuletzt geändert: 2018/06/23 16:54 von Steffen Glavanitz