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heft:die_sternentoeter_-_terra

  Titel: Die Sternentöter
Autor: Kurt Mahr
Reihe:Terra Band 346
Originaltitel
Titelbild: Karl Stephan
Verlag:Moewig, Rastatt 1964

Wir lassen heute und in den nächsten TERRA-Bänden einen alten Bekannten zu Wort kommen: Herbert Bodenschatz, der seinerzeit, 17jährig, den ersten Preis bei unserer Umfrage „Warum lese ich eigentlich Science Fiction“ erhielt. (Siehe TERRA-Band 122 an dieser Stelle)
Herr Bodenschatz, der inzwischen an der Universität München Neuphilologie studiert, verfaßte als Absolvent des Münchener Alten Realgymnasiums 1963 eine Jahresarbeit, für die ihm zum bestandenen Abitur der „Oskar-von-Miller-Preis“ verliehen wurde.
Diese bemerkenswerte Abhandlung wollen wir nachstehend abdrucken. Sie trägt den Titel:
DIE UTOPIE
Grundprinzipien der utopischen Ausdrucksformen im Laufe der Geschichte, Struktur, bestimmende Faktoren und Bedeutung des utopischen Denkens.
 
Wenn man das Wort Utopie im gewöhnlichen Sprachgebrauch verwendet, dann bedeutet dies, daß viele Menschen Utopie und Unsinn gleichsetzen. Utopie ist danach eine phantastische Vorstellung von Dingen, die niemals Wirklichkeit werden. Dinge, die von verrückten Schwärmern und Träumern ersonnen werden und keinen Bezug zur realen Wirklichkeit haben. Schließlich und endlich sagt sich der Alltagsmensch: „Selbst wenn an den Utopien etwas Wahres sein sollte, was geht mich das an? In fünfzig Jahren ist alles vorbei …“
Diese oberflächliche Betrachtung erfaßt aber bei weitem nicht das Phänomen der Utopie in seinem wahren und wirklichen Wesensgehalt. Deshalb will ich versuchen, als Richtschnur für die folgenden Ausführungen diesen Begriff zu definieren und gegen ähnliche Geistesstrukturen abzugrenzen.
Die etymologische Bedeutung des Wortes Utopie geht auf den Titel des Romans „Utopia“ von Thomas Morus zurück und stammt aus dem Griechischen. Die Zusammensetzung der Begriffe ov und rörros kann man am besten mit „Nirgendland“ oder „Nirgendwo“ übersetzen. Damit ist bereits angedeutet, daß es den betreffenden Ort in seiner dargestellten Form nirgendwo gibt. Für die ersten Utopien ist diese rein räumliche Beschränkung durchaus zulässig, da sich das Geschehen der utopischen Schilderungen meist auf fiktiven, also nicht vorhandenen Inseln im Weltmeer abspielte. Utopie dient folglich als Bezeichnung für einen nur in gedanklichen Konstruktionen erreichbaren Idealzustand von Staat und Gesellschaft. Ihre Grundform bildet der teils mehr kommunistische, teils mehr aristokratische oder freiheitliche Ziele verfolgende Staatsroman.
Ernst Bloch schreibt in „Das Prinzip Hoffnung“: „Sinngemäß ist utopische Intention nicht auf die Probleme der besten Gesellschaftsverfassung beschränkt. Ihr Feld … hat sämtliche Gegenstandswelten der menschlichen Arbeit für sich.“
Die politisch-soziale Utopie ist demnach nur ein Teilgebiet utopischen Denkens. Eine weitere Hauptrichtung stellen die wissenschaftlich-technische Utopie und die Sonderform des Zukunftsromans dar. Dabei ist der Begriff Wissenschaft nicht nur auf klassische Naturwissenschaften wie Physik, Chemie oder Astronomie beschränkt, sondern in der modernen utopischen Literatur Verden ebenso Themen der Psychologie, Anthropologie, Kybernetik, Biologie, ja sogar der Semantik und Theologie behandelt.
Überhaupt kann man sich einen Daseinsbereich des Menschen mit anderen geographischen, klimatischen Bedingungen, mit anderen Formen der materiellen und geistigen Kultur, andere Methoden der Lebensbewältigung, andere Denkformen, ja sogar eine andere Gestalt des Menschen und darüber hinaus andere intelligente Wesen vorstellen. Wo dies geschieht, haben wir eine Utopie. Der Begriff Utopie muß von den einseitigen Bestimmungen befreit werden, die ihm durch seine Ausrichtung auf den Staatsroman anhaften.
Ernst Bloch nimmt entschieden gegen diese alleinige Auslegung des Utopiebegriffs Stellung: „Utopisches auf die Thomas-Morus-Weise zu beschränken oder auch nur schlechthin zu orientieren, das wäre, als wollte man die Elektrizität auf den Bernstein reduzieren, von dem sie ihren Namen hat und an dem sie zuerst bemerkt worden ist.“
„Die Utopie bleibt immer bezogen auf die gegebene Realsituation, auf die zeitgenössischen Denkweisen und stimulierenden Erfahrungen. Utopisches geht zwar stets über die gegebene Wirklichkeit hinaus, bleibt aber von ihr abhängig und wandelt sich mit ihr.“ (Schwonke) In der Utopie erprobt der Mensch die Möglichkeit des Auch-anders-sein-Könnens, wobei wirklichkeitstrans-grediente Wunschträume auf die Ebene innerweltlich greifbarer Realität übertragen werden. Ziele bilden hierbei die Kritik negativer Zeiterscheinungen, das Aufzeigen idealer Verhältnisse und Verbesserungsmöglichkeiten, die oft übersteigert ausgedrückte Warnung vor bedrohlichen Zukunftsentwicklungen oder optimistische Zukunftsprognosen und – vor allem in der modernen Utopie – das Abwägen möglicher Entwicklungstendenzen.
Die erste Fortsetzung folgt in TERRA-Band 347 in einer Woche. Herzliche Grüße!
 
Die SF-Redaktion
des Moewig-Verlages
Günter M. Schelwokat

heft/die_sternentoeter_-_terra.txt · Zuletzt geändert: 2018/08/25 14:51 von Steffen Glavanitz