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  Titel: Raumfahrer Vorsicht !
Autor: Poul Anderson
Reihe:Terra Band 347
Originaltitel: Let the spacemen beware ! (1963)
Übersetzer: Wulf H. Bergner
Titelbild: Johnny Bruck
Verlag:Moewig, Rastatt 1964

Wie wir Ihnen schon das letzte Mal sagten, bringen wir heute und in den nächsten Bänden an dieser Stelle eine Abhandlung über DIE UTOPIE, verfaßt von Herbert Bodenschatz. Der Verfasser hatte in Band 346 eine allgemeine Einleitung geliefert. Er fährt darin fort und behandelt anschließend die Antike:
  Trotz aller formalen Unwirklichkeit und Fremdartigkeit setzt sich die echte Utopie einen konkreten Bezug auf die Realität als Sinn und Zweck. Diese Kriterien grenzen auch die utopische Literatur von der rein phantastischen Dichtung ab. Es wäre demgemäß falsch, Werke des Surrealismus, z. B. Kafka, der Utopie einzuordnen, wenn auch die Übergänge manchmal fließend sein mögen. Aus dem gleichen Grund werde ich im folgenden nicht auf Werke von Kubin, Meyrink oder Kasak eingehen, da sie bei genauer Betrachtung nur ihre Phantastik als „Utopien“ ausweist. Kasaks „Stadt hinter dem Strom“ ist beispielsweise die Chronik einer Stadt, die dem Totenreich gleichgesetzt wird. Kubins „Die andere Seite“, vom Autor selbst „ein phantastischer Roman“ genannt, führt uns in ein skurril-dämonisches Traumreich, ein Sinnbild des Grauens und der Zerstörung. So literarisch bedeutsam diese Werke auch sind, muß ich sie dennoch aus dieser Betrachtung ausschließen, da sonst die Gothic Tales, die phantastischen Geschichten eines E. T. A. Hoffmann und nicht zuletzt auch Grimms Märchen zu behandeln wären. In allen derartigen Werken dient das phantastische und unwirkliche Element lediglich als Allegorie zur Darstellung einer dichterischen Wahrheit, während es in der Utopie einen konkreten Konstruktionsbestandteil bildet und einen programmatischen Zweck erfüllt.
Schließlich ist noch die Gruppe der Gegenutopien zu erwähnen. Unter Gegenutopien versteht man Erzählungen, die sich zwar inhaltlich und formal der Utopie bedienen, aber einseitig pessimistische Zukunftsdeutungen geben und sich gegen utopische Idealentwürfe und fortschrittsgläubige Prognosen wenden. Jedoch entsteht diese Sonderform erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als Ausdruck einer von den Auswüchsen der Industrialisierung bedrohten Lebenshaltung. Im folgenden versuche ich, einen Abriß über die historische Entwicklung des utopischen Denkens und eine kurze Charakteristik besonderer wichtiger Werke zu geben. Als Vorläufer des Staatsromans finden wir bereits Zeugnisse in der griechischen Antike. Eines der berühmtesten Werke ist Platos (427 bis 347 v. Chr.) POLITEIA. Ich will hier nur die wesentlichsten Grundzüge der in Dialogform geschriebenen Abhandlung über den Staat anführen. Plato zog die Folgerung aus seiner Erkenntnis, daß die Menschen insgesamt weder Götter noch Tiere sind, und die Vernunft sehr ungleich unter ihnen verteilt ist. In Analogie mit der Dreigliederung der Seelenfunktionen des Einzelmenschen unterteilte er sein Staatswesen in die drei Stände der Herrscher (Geist), der Wächter (Mut) und der Arbeiter (Begierde). Die vier Grundeigenschaften des guten Staates sind Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit. Als berufene Lenker des Staates haben die Philosophen zu gelten, da ihnen die meiste Weisheit zukommt. Der platonische Staat weist auf vielen Gebieten bereits die Charakteristiken moderner totalitärer Herrschaftsformen auf. So werden z. B. Maßnahmen zur Hochzüchtung der Rasse getroffen, der Unterschied der Geschlechter ist aufgehoben, es gibt nur noch gemeinsames Eigentum. Alle diese Erscheinungen treten immer wieder in späteren Utopien auf, man kann sagen, sie bilden den Grundstock nahezu sämtlicher sozialer Utopien. Als Abschluß des Gesamtwerkes dient eine Untersuchung über die Regierungsformen der Timokratie, Oligarchie, Demokratie und Tyrannis sowie ein Beweis für die Unsterblichkeit der Seele.
Gehen wir in der Geschichte weiter, so stoßen wir auf die auffallende Tatsache, daß es in der römischen Antike keine vergleichbaren Werke gibt. Ciceros Schrift DE RE PUBLICA, die oft fälschlich als Utopie aufgefaßt wird, ist höchstens als Grenzfall zu werten. Cicero will hier vielmehr den römischen Staat darstellen, wobei ihm die idealisierte Vergangenheit als Norm vorschwebt. Dieser Gegensatz zur griechischen Welt mit ihrer Fülle an Utopien läßt sich aus dem nüchternen Realsinn des römischen Bauernvolkes erklären, das jedem Phantasiegebilde und jedem Abschweifen in abstrakte Fernen abgeneigt war and sich auf die gegebene Wirklichkeit der politischen Realität, die Verwaltung seines Weltreiches, beschränkte.
In der nächsten Fortsetzung kommt der Verfasser auf das Mittelalter und die Renaissance zu sprechen. Bis zum Erscheinen des TERRA-Bandes 348 verbleiben wir mit freundlichen Grüßen
  Die SF-Redaktion des
Moewig-Verlages
Günter M. Schelwokat

heft/raumfahrer_vorsicht_-_terra.txt · Zuletzt geändert: 2018/06/10 17:41 von Steffen Glavanitz