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  Titel: Der Scout im Reich der Schatten
Autor: H. G. Ewers
Reihe:Terra Band 349
Originaltitel
Titelbild: Karl Stephan
Verlag:Moewig, Rastatt 1964

Sicher haben viele von Ihnen mit Interesse die letzten drei Diskussionsseiten gelesen, auf denen Herbert Bodenschatz mit seiner Abhandlung über die UTOPIE sozusagen die historischen Anfänge dessen beleuchtet, woraus dann später die Science Fiction erwachsen ist, der wir ja alle verbunden sind.
Hier nun die weitere Folge der Abhandlung!
Den ersten utopischen Roman in Deutschland, allerdings in lateinischer Sprache, schrieb der protestantische Geistliche Johann Valentin Andreae (um 1600). In seiner REIPUBLICAE CHRISTIANOPOLITANAE DESCRIPTIO tritt er den radikalen Tendenzen des Sonnenstaates entgegen und beschreibt einen christlichen Musterstaat, wobei er versucht, den absolutistischen Staatsgeist religiös zu überbauen und zu überwinden.
Das erste utopische Dokument, in dem die wissenschaftlichen Strömungen stärker hervortreten, ist die NOVA ATLANTIS des englischen Lordkanzlers Francis Bacon (1561 – 1626). Bacon, der den modernen englischen Empirismus und die induktive Methode begründete, schildert in seinem Reiseroman ein Staatswesen auf der erfundenen Insel Bensalem. Das Buch ist ein Fragment und enthält nur die Darstellung der Begründung und der Aufgaben des „Hauses Salomons“, wo bereits ein ausgeprägtes naturwissenschaftliches Forschen betrieben wird.
Die romanhaften Reiseberichte, wie sie im 16. und 17. Jahrhundert für utopische Darstellungen beliebt waren, erfuhren ihre Krönung in Jonathan Swift’s (1667 – 1745) großartiger Satire GULLIVERS REISEN. Zu Unrecht wird dieses Werk zu einer verniedlichten Märchenerzählung für Kinderbücher reduziert. Das gesamte Buch umfaßt neben den Reisen nach Liliput und ins Reich der Riesen, Brobdingnag, auch die fast noch bedeutenderen Fahrten nach Laputa (Balnibarbi, Lung-gnagg, Glubbdubdrib und Japan) und ins Land der Houyhnhnms. Die beiden ersten Teile zeigen das Swift am Herzen liegende Thema vom Hochmut, dem wahren Verderbnis des Menschen. Das dritte Buch erweist, daß es auch einen Hochmut des Intellekts gibt, und die Yahoos und Houyhnhnms des vierten Buches sollen den Leser mahnen, daß Mensch zu sein allein noch nicht Grund zum Hochmut ist. Swifts Abscheu vor der menschlichen Gestalt und ihren körperlichen Funktionen kommt besonders scharf zum Ausdruck, indem er in den Yahoos genannten Kreaturen das pervertierte Zerrbild des Menschen und in den als Pferden dargestellten Houyhnhnms edle und schlichte Vernunftwesen zeichnet. Noch nie zuvor wurden negative Zeiterscheinungen im Gewand der Fabel mit so beißendem Spott glossiert und scharfpointiert umrissen. Neben Satiren auf Englands Irlandpolitik und auf die erst kurz gegründete Royal Society finden sich bereits ernsthafte utopische Vorwegnahmen von Rechenmaschinen und eugenischen Versuchen. Ich will hier einige Beispiele für die Vielschichtigkeit des Swiftschen Spottes anführen: In Liliput werden die beiden gegnerischen Parteien nach den hohen und niedrigen Absätzen ihrer Schuhe unterschieden. Liliput liegt mit dem benachbarten Zwergenreich Blefuscu im Krieg, weil sich die Blefuscuden nicht dazu bekehren lassen wollen, die Eier am stumpfen Ende zu öffnen. Die Professoren der Akademie von Lagado beschäftigen sich mit den verschiedensten Projekten: Einer will Eis zu Schießpulver kalzinieren, ein anderer gibt eine Abhandlung über die Hämmerbarkeit des Feuers heraus; ein Blindgeborener lehrt seine Schüler, von ihm hergestellte Farben durch Gefühl und Geruch zu unterscheiden; einige erweichen den Marmor zu Kissen und Polstern, andere züchten nackte Schafe. In der Sprachschule wird über die zweckmäßigste Verbesserung der Landessprache beraten. Die einen schlagen vor, zur Verkürzung der Rede die vielsilbigen Worte in einsilbige zu verwandeln und alle Verben auszulassen. Die anderen befürworten die gänzliche Abschaffung aller Wörter, da jedes gesprochene Wort eine Abnützung der Lunge zur Folge habe. Aus verständlichen Gründen wurden in den ersten Ausgaben einige Stellen gestrichen, z. B. die Anagramme Tribnia (Britain) und Langden (England) oder die Behauptung, daß das Wort Nachtstuhl als Deckwort für die Regierung gedeutet werden könne. Für den zeitgenössischen Leser lag hier eine sehr deutliche Anspielung auf Ereignisse nach dem Tod der Königin Anna (1714) vor, als die Tory-Regierung, mit der Swift selbst zusammenarbeitete, über Nacht gestürzt wurde. Es fand eine Haussuchung bei einem der Führer der Tories, dem Bischof von Rochester, statt, die auch nicht vor dessen Nachtstuhl haltmachte. Dies war um so peinlicher, da tatsächlich belastendes Material gefunden wurde.
Gewissermaßen als Zusammenfassung für das Werk Swifts kann sein berühmtes Wort gelten, daß es rühmenswerter sei, zwei Grashalme an Stelle von einem wachsen zu lassen, als alles, was die Politik zuwege bringen könnte.
 
Die nächste Fortsetzung befaßt sich mit einer neuen Form der Utopie: dem Planetenroman.
 
Herzliche Grüße bis zum Erscheinen des TERRA-Jubiläumsbandes 350 – diesmal aus der Feder des berühmten A. E. van Vogt! – ruft Ihnen zu
 
Die SF-Redaktion des
Moewig-Verlages
Günther M. Schelwokat

heft/der_scout_im_reich_der_schatten_-_terra.txt · Zuletzt geändert: 2018/08/26 17:37 von Steffen Glavanitz